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2. Zum Stand der fachlichen und wissenschaftlichen Aufarbeitung

Gerade in kulturwissenschaftlicher Hinsicht sind die Wackersdorfer Ereignisse nicht ausreichend aufgearbeitet. Schon auf dem Höhepunkt der Geschehnisse
hatte einer der Herausgeber, der Regensburger Volkskundler Uli Otto, ortsansässige Kulturwissenschaftler aufgerufen, die Anti -WAA-Bewegung der
Region zu begleiten und zu kommentieren. Beispielgebend sollte die bereits 1977 im badischen Wyhl gezeigte Ausstellung „Wyhl und Widerstand“ sein.
Doch erst in neuerer Zeit beginnen an der Universität Regensburg (in deren Einzugsbereich Wackersdorf liegt) Fächer wie die Bayerische Landes- und die
Kunstgeschichte, aber auch Fachbereiche wie die Katholische Theologie das Thema vereinzelt aufzugreifen.

Ein Überblick, inwieweit „Wackersdorf“ an anderen deutschen Universitäten Thema der Sozial- und Kulturwissenschaft en war, steht aus. Am Institut für Neuere und Neueste Geschichte der Schiller-Universität Jena jedenfalls untersuchte ein inzwischen, d.h. im Jahr 2017 abgeschlossenes Dissertationsprojekt von Janine Gaumer den „WAAhnsinn in der bayerischen Provinz. Der Konflikt um die atomare Wiederaufarbeitungsanlage in Wackersdorf 1980-1990“. Es beleuchtet die gesellschaftlichen Befindlichkeiten und die politische Kultur der Bundesrepublik aus der Perspektive einer Einzelfallstudie heraus, deren Thematik ein zentrales Konfliktfeld in den siebziger und achtziger Jahren war und es - wenn auch unter veränderten Bedingungen und Prämissen auch heute noch ist. Eine der zentralen Fragen konzentriert sich dabei auf das Staatsverständnis von Bürgern jenseits der intellektuellen Elite. In Wackersdorf standen Modus und Legitimität staatlicher Gewalt zur Disposition. Was der Staat mit welchen Mitt el durchsetzen kann und darf, diese Machtfrage war im Konflikt um die WAA von großer Bedeutung. Welche Erwartungen wurden von der Bevölkerung an den Staat und seine vollziehenden Organe gestellt? Welche Legitimität konnten sowohl Staat als auch Demonstranten in ihren Vorgehensweisen für sich beanspruchen, und welche internen Differenzen gab es darüber auf beiden Seiten? Wie wurden jeweils Begriffe wie ‚Freiheit‘ und ‚Sicherheit‘ definiert, die aus unterschiedlichen Gründen in Gefahr gesehen wurden? Die unterschiedlichen protestierenden Akteure in Wackersdorf werden dabei genauer in den Blick genommen und nach der Positionierung bestimmter Gruppen innerhalb des Protests - insbesondere den christlichen - und den Protest- und Radikalisierungsformen gefragt. Über diese konkrete Analyse des Protests hinaus stellt sich die Frage nach der energiepolitischen Bedeutung der WAA und ihrer Einordnung in die politische und wirtschaft liche Entwicklung der Energieversorgung in der Bundesrepublik. Die Expertenkultur, die in der Anti-Atomkraft-Bewegung eine enorme Bedeutung hatte, ist weiterhin ein Untersuchungsfeld, das in dem Dissertationsvorhaben eine Rolle spielt.

Bezeichnenderweise scheint die erste abgeschlossene wissenschaftliche Arbeit, die sich unter anderem mit Wackersdorf befasste, in Japan vorgelegt worden zu sein. Soki Aoki, Literatursoziologin an der literarischen Fakultät der Tohoku Universität in Sendai, verfasste ihre Dissertati on zum Thema „Die Entwicklung der Atom-Bewegung in Deutschland: Initiative zur umweltorientierten Gesellschaft “. Ihr Augenmerk richtete sich neben dem Entwicklungsprozess umweltfreundlicher Politik auch auf die Rolle der Umweltbewegungen und gibt einen Überblick über die Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland.

Inzwischen zeigen auch Leitung und Mitarbeiter des “Hauses der Bayerischen Geschichte“, das 2018 in Regensburg eröffnet werden soll, Bereitschaft , widerständigen Ereignissen wie „Wackersdorf“ Raum zu bieten. Denkanstöße kamen u.a. vom „Arbeitskreis Regensburger Bürger“, dessen Mitglieder sich schon in den 1980er Jahren in die Auseinandersetzungen eingeschaltet und Anti -WAA-Veranstaltungen aktiv initiiert oder unterstützt hatten. Nennenswert, aber leider nicht öffentlich zugänglich sind einige durch interessierte Lehrkräfte angeregte Facharbeiten an Schulen der Region.

Bereits im Vorfeld des Projektes wurde klar, dass öffentliche Förderung kaum zu beschaffen war. Anfragen wegen finanzieller Unterstützung wurden bislang abschlägig beschieden. So antwortete das Bayerische Staatsministerium für Bildung und Kultus, Wissenschaft und Kunst auf Anfrage: „ [W]ir haben Ihr Anliegen geprüft . Leider gibt es keine Fördermöglichkeit für ein solches Projekt im Bereich der Kulturförderung des Staatsministeriums und im Bereich Kulturfonds Bayern. Weitere mögliche Ansprechpartner, die als Förderer in Betracht kämen, sind uns leider nicht bekannt“. Von der Friedrich-Ebert-Stiftung kam die Antwort, man könne „keine großen Hoffnungen machen […], denn die Friedrich-Ebert-Stiftung ist keine finanzielle Stiftung. Wir sind verpflichtet, die uns zur Verfügung gestellten Gelder für eigene Projekte zu verwenden“. Reaktionen der Heinrich-Böll-Stiftung der GRÜNEN blieben zunächst aus, obwohl das Thema doch quasi zum Gründungsmythos der Partei gehört; eine spätere Antwort war ebenfalls negativ. Ihr bayerischer Ableger antwortete zügig, aber auch abschlägig:
„Die Petra-Kelly-Stiftung hat als grünnahes Bildungswerk den Auftrag, in Bayern eigenständig Veranstaltungen im Rahmen politischer Bildung durchzuführen.
Auf Grund der Vorgaben unserer Geldgeber – Bayerisches Kultusministerium und Bundesinnenministerium – dürfen wir weder sponsern noch fördern oder finanzielle Unterstützung gewähren. Es tut mir leid, Ihnen nichts anderes mitteilen zu können. Für Ihr Vorhaben wünsche ich Ihnen viel Erfolg.“ Ebenfalls eine Absage kam von der Rosa-Luxemburg-Stiftung, wenngleich man Interesse am Thema bekundete. Eine erste Förderung erfolgte dann jedoch seitens eines engagierten Regensburger Privatmannes, Ulrich Lenz von „Ostwind“. Dagegen wurde unser Anliegen einer Förderung seitens der Stadt Regensburg – hier in Person des Oberbürgermeisters sowie einer Kulturberaterin der Stadt – in einem Schreiben vom 26. April sowie einer Mail vom 03. Juni 1916 abschlägig beschieden.

Mit der hier sichtbar werdenden Abschottung des etablierten Politikbetriebs vom „Druck der Straße“ und den daraus folgenden demokratischen und kulturellen Implikationen hatte sich Bernd Jürgen Warneken bereits Ende der 1980er Jahre beschäftigt. Im Einleitungskapitel zum Band Massenmedium Straße. Zur Kulturgeschichte der Demonstration stellt er fest:

„Zu vermuten ist, dass auch die politische und kulturelle Distanz zum Massenmedium Straße dieses als bloße Randerscheinung des politischen Lebens erscheinen ließ und überdies gefürchtet wurde, dass die ‚Unseriosität‘ des Gegenstands auf ihre Analytiker abfärben könnte. Als sich [...] die Historik seit den 1970er Jahren mehr als vorher der Geschichte des sozialen Protests zuwandte, galt das Interesse eher spektakulären Aufruhrhandlungen als ‚bloßen Demonstrationen‘, die meist keine greifbaren Folgen auf der Ebene des politischen Systems und der sozialen Strukturen aufzuweisen hatten. Erst als sich in und neben der sozialhistorischen Forschung auch kulturhistorische Interessen am sozialen Protest zu Wort meldeten, konnte das ereignis-, struktur- und alltagshistorisch eher irrelevant erscheinende Handlungsmuster Demonstration allmählich Bearbeiter finden, die erkannten, dass die ‚Zeichen, Symbole und
Rituale solcher Aktionen, eine wichtige Rolle bei der Strukturierung politischer Erfahrung, insbesondere bei dem Aufbau kollektiver Identitäten spielen, dass ihre Abläufe und die dabei praktizierten Aktionsmuster in hervorragender Weise Auskünfte über Konvergenzen und Verwerfungen von Alltags- und politischer Kultur, von Volks- und Parteikultur und über die Amalgamierungsformen von Tradition und Moderne in der ‚Volkspolitik‘ geben können.“

Ein Grundzug des Verdrängens charakterisiert zumindest in wesentlichen Teilen auch die regionale Kulturgeschichtsschreibung - so, wenn eine aktuelle Musikgeschichte Regensburgs den Beitrag regionaler Musiker im Widerstand gegen die WAA und damit die Rolle seiner kulturelle Träger nicht zur Kenntnis nimmt. Dabei ging der Widerstand einer Vielzahl an Kulturschaffenden gegen die WAA weit über eine bloße Begleitung der Aktionen hinaus. Als Beispiel genannt sei die österreichische Initiative PLAGE aus Salzburg, die bis heute besteht. 1986 und 1988 führte sie in Verbindung mit namhaft en Musikern, Schauspielern und weiteren Künstlern zwei große Anti -Atom-Wochenenden durch, die „Salzburger Protestspiele“. Die phantasievollen Aktionen der PLAGE in Wackersdorf wie in Salzburg führten sogar dazu, dass die bayerische Staatsregierung die Landesgrenze schloss, um Widerständlern die Einreise zu verweigern. Der bayerische Ministerpräsident F.J. Strauß, bis dahin regelmäßig Gast der Salzburger Festspiele, sah sich daraufh in gar zu deren Boykott veranlasst.