Dieter Groß & Uli Otto

 

Einige soziologische Hintergründe zum Widerstand gegen die WAA in den 1980er Jahren

Die Spaltung der oberpfälzer Gesellschaft zwischen 1980 und 1989

Zwischen 1980 und 1990 ging durch die oberpfälzer Gesellschaft ein tiefer Riss, und der reichte oftmals bis tief in Familien und Freundeskreise hinein. Für eine allgemeine Darstellung der damaligen Grundstimmungen kann man annähernd von einer, allerdings in Ermangelung verlässlicher Befragungen und Untersuchungen nur schwer quantifizierbaren, Dreiteilung ausgehen.
Zum einen gab es die sich in der Sache oft als unpolitisch verstehenden CSU und Atomtechnikanhänger. Dieses gesellschaftliche Segment verharrte wesentlich in der vor- bzw. antidemokratische Attitüde, dass „die da oben das beste für uns wollen“, und folgte dem Projekt in unkritischer Technologiegläubigkeit. Anti -WAA-Gruppen waren für sie grundsätzlich „von Moskau finanzierte und fremdgesteuerte Chaoten“ bzw. „nützliche Idioten Moskaus“. In Einzelfällen fanden sich gar Denunzianten, die ruhigen Gewissens und voller echter Empörung kritischere Geister als Staatsfeinde anschwärzten. Dennes waren gerade die veränderten Demonstrations- und Aktionsformen der AKW-Gegner, die ein tiefes Gefühl von Verunsicherung und Bedrohungsängste aufkommen ließen. Man folgte bereitwillig wirtschaftlichen Argumenten wie denen, dass in Deutschland ohne die Atomkraft die Lichter ausgingen und dass Atomkraft eine billige Alternative zu anderen Energiequellen darstellte. Ohnehin seien die deutschen AKWs die besten der Welt und schon von daher könne überhaupt nichts passieren.

Der versprochene ökonomische Nutzen der WAA strahlte zumindest in der ersten Zeit durchaus auch über diesen Kreis hinaus, wie z.B. zeitgenössische und dauerhafte Zerwürfnisse innerhalb der SPD-Fraktion im Gemeinderat von Wackersdorf belegen.

Die zweite und breiteste Gruppierung bestand aus den „Ohne-Michels“, die vor allem ihre Ruhe haben wollten. Im Unterschied zur ersten Kategorie hegte man ein manchmal tiefes Misstrauen gegenüber dem demokratischen Rechtsstaat, denn als selbsteingestandene „Realisten“ wusste man: Als kleiner Bürger „könne man sowieso nichts ändern“, weil „die da oben ohnehin machen, was sie wollen“. Selbst passiv bleibend diffamierte man die Teilnehmer etwa an Demonstrations-Wochenenden als „auswärtige Chaoten“ und „arbeitsscheues Gesindel, welches alles bestreite, außer seiner Lebenshaltung“- Formulierungen, die populistische Politiker ständig bedienten, allen voran der bayerische Ministerpräsident und vehemente Befürworter nicht nur ziviler Atomkraft, Franz Josef Strauß. Das in dieser Gruppe latente Misstrauen auch gegenüber dem Freistaat Bayern oder der Bundesrepublik zeigte sich darin, dass man eigentlich und „prinzipiell doch auch gegen die WAA“ sei, aber Unterschriftenaktionen mit dem Argument boykottierte, es könnten damit persönliche und berufliche Nachteile verbunden sein. Folglich „outete“ sich mancher dieser „Ohne-Michels“ erst nach Aufgabe der Pläne Ende der 1980er
Jahre: Man sei auch selbst schon immer gegen die WAA gewesen.

Die dritte Gruppe, die Anti -AKW-Aktivisten, nahm mit ihren Aktionen nicht nur demokratische Grundrechte wahr, sondern stellte sich ganz bewusst der „Pflicht zu demokratischer Teilhabe von unten“. Die Angst um die angestammte Heimat ließ auch Konservative zu aktiven WAA-Gegnern werden. In realistischer Einschätzung der politischen Lage war man bereit, Unbequemlichkeiten und Misshelligkeiten auf sich zu nehmen, erlitt tatsächlich in manchen Fällen berufliche Schwierigkeiten und verzichtete zumindest auf Freizeit und nahm finanzielle Lasten auf sich - da „Moskau“ den Anti -Atom-Aktivisten eben nichts zahlte.

Um die kulturellen Manifestati onen der letzteren Gruppe soll es in den Beiträgen unseres Projektes gehen, also um Menschen, die ihren Kampf gegen die Atomlobby und die sie stützenden Politiker mit großem Engagement, unter persönlicher Opferbereitschaft und nicht zuletzt mit viel Phantasie führten. Die „Staatsmacht“ hatte ihren Aktivitäten nichts Kreatives entgegenzusetzen. Was blieb war, mit Diffamierungskampagnen, martialischem Gehabe und Repressionsmethoden
zu reagieren - und doch höhlte auch das sprichwörtliche Wasser der Kultur den Stein staatlicher und ökonomischer Macht.

 


Das Ausstrahlen des Konzepts einer demokratiebewussten Bürgergesellschaft in die Oberpfalz

Die Anti -WAA-Bewegung in der Bundesrepublik Deutschland lässt sich nicht von anderen gesellschaftlichen Entwicklungen und den sozialen Bewegungen
der jüngsten Vergangenheit isolieren. Sie setzte sich von Anbeginn an aus Einzelpersonen, Organisationen und Gruppen zusammen, die an unterschiedlichste demokratische Traditionen und Vorbilder anknüpften und sich ganz bewusst als Teil eines größeren, netzwerkartigen Zusammenhangs sahen. Man wandte sich aktiv gegen die militärische und zivile Nutzung der Atomkraft nicht nur im eigenen Land und trat für pazifistische und bürgerrechtliche Bestrebungen in allen Ländern ein, auch wenn man sich jeweils auf ein konkretes nationales oder regionales Projekt konzentrierte. So gab es Ende der 1970er Jahre vielfache Überschneidungen zur im Rahmen der Nachrüstungsdebatte wieder aktuellen Friedensbewegung sowie zu profilierten Umweltorganisationen wie BUND, Greenpeace und Robin Wood. Für viele überraschend waren es bereits zu Beginn des Anti -Atom-Widerstandes nicht zuletzt konservativ fühlende lokale Gruppierungen, sogar aus dem CDU/CSU-Lager, die entschlossen Protest organisierten und weitertrugen. Ihnen gesellten sich politische Gruppen nicht zuletzt aus studentischen und manchmal auch aus radikalen Kreisen hinzu - eine soziologische Breite, die eine Spaltung der Bewegung durch die WAA-Befürworter zunehmend erschwerte.

Das Prinzip der „friedlichen“ Nutzung der Kernenergie hatte seinen politischen Durchbruch in Deutschland in den 1950er Jahren gehabt. Die selten folgenden
Proteste dagegen blieben begrenzt auf einen lokalen Rahmen. Es ging zumeist um den Widerstand gegen ein KKW oder eine Atommülldeponie in der
Nähe des eigenen Wohnortes. So führte ein Protest der Stadt Nürnberg dazu, dass ein zunächst für Bertoldsheim geplantes Atomkraftwerk letztendlich in
Gundremmingen errichtet wurde. Zum offenen Widerstand bzw. organisierten Einsprüchen von Bürgern kam es erstmals 1970/1971, als die Planungen der
KKWs in Breisach, Essenshamm, Neckarwestheim und Bonn bekannt geworden waren. In Breisach gab es Kundgebungen und Protestmärsche. 65.000 Einsprüche wurden vorgelegt, was die baden-württembergische Staatsregierung dazu bewog einzulenken - und das Vorhaben nach Wyhl zu verlagern. Doch
dort gab es wider Erwarten noch weit heftigere Widerstände, die französische AKW-Gegner einbezogen, die ihrerseits seit 1971 gegen das KKW Fessenheim
protestierten. Das Engagement der südwestdeutschen Bürgerinitiativen verstärkte sich zudem angesichts der Politik der baden-württembergischen Landesregierung, die auf Konfrontation setzte und eine Politik aus Täuschung und Desinformation verfolgte. Im Februar 1975 kam es schließlich zur mehrmonatigen Besetzung des Wyhler Baugeländes durch ca. 28.000 Menschen. Sie übte große Signalwirkung auf die gesamte Bewegung in der Bundesrepublik aus und gewann Symbolcharakter, weil die baden-württembergische Staatsregierung ihre Pläne schließlich aufgeben musste - ein erster ermutigender Sieg der deutschen Anti -Atom-Bewegung. Ab Mitt e der 1970er Jahre breitete sich Widerstand dann an fast allen möglichen Atom-Standorten aus. Lokale Initiativen formulierten ihr Anliegen nun als „Kein AKW in NN und anderswo“. Das Spektrum an Aktivitäten verbreiterte sich rapide. Juristischer und fachwissenschaftlicher Widerstand traf sich mit neuen Protestformen. Es gab Aufklärungsveranstaltungen und Vorträge, Einsprüche gegen Verfahren, verfassungsgerichtliche Klagen, Kundgebungen, Demonstrationen, Blockadeaktionen und kulturelle Aktionen der verschiedensten Art.

Als Spitzenverband der links-alternativen Umweltbewegung vermochte sich der Bundesverband Bürgerinitiativen Umweltschutz (BBU) zu positionieren. Er wurde zum einigenden Faktor, „ein lockerer Dachverband von Umweltgruppen, der die nationalen Themen der Bürgerinitiativbewegung stark beeinflusste und in seiner Struktur die Charakteristika der Initiativen spiegelte. So verschrieb sich der BBU dem Prinzip der Basisdemokratie und der Vermeidung von Mehrheitsentscheiden. Dem BBU mit seinen ca. 100 bis 200 Mitgliedsgruppen gelang es Mitte der siebziger Jahre das Thema Kernkraftprotest und gegen Ende des Jahrzehnts das Thema Umwelt und Abrüstung in der nationalen Öffentlichkeit als Kernanliegen der Bürgerbewegungen zu positionieren“.

Selbst die Hegemonie der USA im Feld der Popularkultur spielte eine Rolle. Man importierte von dort den Anspruch auf basisdemokratische politische Teilhabe. Die amerikanische Bürgerrechtsbewegung wurde zum international anerkannten Vorbild. Mit ihrem populären Führer Martin Luther King jr. und dem von ihm propagierten zivilen Ungehorsam hatt e sie in den späten 1950er und frühen 1960er Jahren in den Südstaaten der USA die gesetzlich festgeschriebene Diskriminierung der schwarzen Bevölkerung angeprangert. Ihre unterschiedlichen Formen des gewaltlosen Widerstands und friedlichen Protests wurden beispielgebend auch für Teile des Wackersdorf-Widerstands.

Für die Organisation der zahlreichen Kundgebungen und Demonstrationen konnte man zurückgreifen auf die deutsche Wiederbewaffnungsdiskussion der 1950er Jahre. Inspiriert von der britischen Campaign for Nuclear Disarmament entstand daraus zu Beginn der 1960er Jahre die pazifistische Ostermarschbewegung. Sie war die erste unabhängige und breit angelegte außerparlamentarische Opposition in der Bundesrepublik. Getragen von traditionelleren Verbänden wie der Naturfreundejugend, aber auch von religiös motivierten Pazifisten wie dem Internationalen Versöhnungsbund, entwickelte sie sich zu einer Massenbewegung mit bis zu 300.000 Teilnehmern.

Unterstützung fand sie bei namhaften Persönlichkeiten wie Erich Kuby, Robert Jungk, Martin Niemöller, Ernst Rowohlt, Erich Kästner, Robert Scholl (dem Vater von Hans und Sophie Scholl von der „Weißen Rose“), Helmut Gollwitzer und Bertrand Russell. Aus den zunächst auf die Ostertage begrenzten Aktionen entstand 1963 die ‚Kampagne für Abrüstung‘, die 1968 – unter dem Eindruck der Auseinandersetzungen um die Notstandsgesetze – zur ‚Kampagne für Demokratie und Abrüstung‘ wurde. „Aus den wenigen mutigen Ostermarschierern war somit innerhalb von acht Jahren die erste soziale Bewegung der Bundesrepublik entstanden, die mit unterschiedlichen Formen des gewaltfreien Widerstands auch die Grundlagen für die ab 1970 entstehende Bürgerinitiativbewegung und später die Anti-AKW-Bewegung geschaffen hatte“. Einen zweiten Höhepunkt erlebte sie zwischen 1979 bis 1983 in der Nachrüstungsdebatte. Massenproteste gegen die Installation von Pershing II-Raketen und Cruise Missiles mündeten am 10. Juni 1982 in Bonn, der damaligen Bundeshauptstadt, in die bis dahin größte Demonstration des Landes. Anlass war ein Staatsbesuch des US-Präsidenten Ronald Reagan.

Aber auch andere Ereignisse der 1960er Jahre veränderten längerfristig das politische Bewusstsein in Richtung größerer politischer und gesellschaftlicher Liberalität. Exemplarisch erwähnt seien die „Schwabinger Krawalle“ vom Juni 1962, ein an sich singulärer Kulturkonfl ikt auf der Münchner Leopoldstraße mit erheblicher kultureller Langzeitwirkung. Von noch durchschlagenderer Wirkung war nur wenige Monate später der „SPIEGEL-Affäre“, die das gesamte poltische Selbstverständnis des Landes veränderte. Staatliche Legitimität, so wurde deutlich, braucht die aktive Mitwirkung der Bürger.

 

Die westdeutsche Studentenbewegung der 1960er Jahre und das Aufkommen „grünen Gedankenguts“ ab Beginn der 1970er Jahre

Als Beginn der westdeutschen Studentenbewegung gilt das Jahr 1961, in dem sich die SPD im Gefolge ihres Godesberger Programms vom parteilinken
Sozialistischen Deutschen Studentenbund trennte. Restaurative Entwicklungstendenzen und Politskandale sollten das gesellschaftliche Klima weiter verschlechtern. Die Tötung des Studenten Benno Ohnesorg während der Anti-Schah-Demonstration in Berlin am 2. Juni 1967 und das Attentat auf Rudi
Dutschke, der Symbolfigur der studentischen Linken, führte in Teilen der Jugend zu verstärkter Militanz. Diese „Außerparlamentarische Opposition“ sollte sich zwar schon am Ende des Jahrzehnts in Kleingruppen aufsplittern, schuf mit ihren neuen Aktionsformen aber den Übergang zu den Neuen Sozialen Bewegungen. Zu ihnen gehörte die neue Anti -Atomkraft -Bewegung gegen die zivile Nutzung der Kernenergie. Hintergrund war zudem ein sozialpsychologischer Wertewandel in der westdeutschen Gesellschaft hin zu tendenziell postmaterialistischen, als emanzipatorisch aufgefassten Weltbildern und Lebensstilen, die rein ökonomischen Argumentationen den Boden entzog.

Aus der Anti -Atomkraft - und Umweltbewegung, den Neuen Sozialen Bewegungen, der Friedensbewegung und der Neuen Linken der 1970er Jahre entstand die am 12./13. Januar 1980 in Karlsruhe gegründete Partei Die Grünen. Bei der Bundestagswahl 1983 gelang ihr der Einzug in den Bundestag. Von 1985 bis 1987 stellte sie in einer rot-grünen Koalition in Hessen mit Joschka Fischer erstmals einen Landesminister.

Trotz aller gesellschaftlichen Veränderungen dominierte in Bayern weiter die CSU. Gerade hier schien darum die Durchsetzbarkeit einer Atomanlage wie der WAA unproblematisch zu sein. Umso überraschender war, dass es wegen der WAA-Pläne im eigenen Hinterland plötzlich zu ungeahnten Protestkundgebungen kam, darunter im Sommer 1986 das 5. WAAhnsinns-Festival in Burglengenfeld, mit ca. 130.000 Teilnehmern die bis dahin größte politisch motivierte Open-Air-Musikveranstaltung in der Geschichte der Bundesrepublik.

Die massenhafte Beteiligung von Kulturträgern an den Auseinandersetzungen um die Atomkraft in den 1970er und 1980er Jahren sowie um den NATO-Nachrüstungsbeschluss 1979 sind die bis heute letzten politischen Ereignisse, in denen kulturelle Manifestati onen in einem beinahe materiellen Sinn politische Wirkung zeigten. Mit der Durchsetzung eines neoliberalen Wirtschaftskonzepts sowie nach der deutschen Wiedervereinigung samt den damit verbundenen Problemen verschob sich das Interesse eines Großteils der Bevölkerung wieder hin zu den klassischen ökonomischen Problemen. Ökologische Fragen verschwanden zeitweise zwar weitgehend aus der medialen Debatte, politisch aber wirkten sie weiter. So begrenzte man zu Regierungszeiten Gerhard Schröders die Laufzeiten der deutschen Kernkraftwerke auf zwanzig Jahre. Durchkreuzt wurden die Pläne der konservativen Nachfolgeregierung unter der ehemaligen Umweltministerin Merkel, die Laufzeiten wieder zu verlängern, durch die Atomkatastrophe im japanischen Fukushima im Frühjahr 2011. Beides gab der Anti -AKW-Bewegung erneut Auftrieb, und eher aus parteipolitisch-taktischen Erwägungen denn aus Überzeugung beschloss die Bundesregierung zumindest prinzipiell den Ausstieg Deutschlands aus der Atomenergie. Diese Entscheidung unumkehrbar zu machen ist ein Kern der gegenwärti gen ökologischen Debatt en. Insofern reicht die erfolgreiche und eben auch kulturell unterfütterte Opposition gegen die WAA bis in die Gegenwart hinein, ja sogar darüber hinaus.

 

Anmerkungen und Fußnoten finden sich ebenfalls im downloadbaren pdf-Dokument "Historischer Überblick ..."  Download