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Facetten und Aspekte des Anti-WAA-Widerstands in der Oberpfalz zwischen 1980 bis 1990. Eine Annäherung an Teilaspekte der neueren Oberpfälzer Regional- und Kulturgeschichte

 

1. Vorbemerkungen


Zwischen 1980 und 1990 stand die über die bayerische Oberpfalz hinaus weitgehend unbekannte Gemeinde Wackersdorf im Fokus einer breiteren Öffentlichkeit, denn Bundesregierung bzw. Bayerische Staatsregierung hatten sie auf Betreiben der Deutschen Gesellschaft für die Wiederaufarbeitung von Kernbrennstoffen (DWK) als möglichen Standort einer atomaren Wiederaufarbeitungsanlage vorgeschlagen. Der unerwartet heftige Widerstand breiter Teile der Bevölkerung, der sich auch in kulturellen Aktivitäten manifesti erte, ließ „Wackersdorf“ in eine Reihe mit Anti -Atom-Zentren wie Wyhl, Brokdorf und Gorleben treten. Mehr noch als diese wurde es zum symbolhaft en Ort erfolgreicher bürgerlicher Gegenwehr, an deren Ende die Pläne sang- und klanglos beerdigt wurden.

Drei Jahrzehnte später drohen Details dem Vergessen anheimzufallen. Herausgeber, Autoren und Mitarbeiter des hier vorgestellten Projekts sehen sich daher als Chronisten der verschiedenen Facett en und Aspekte insbesondere des kulturellen Anti -WAA-Widerstands. Ziel der Publikation ist die Aufarbeitung eines Kapitels Oberpfälzer Regional- und Kulturgeschichte, das heute eher „Fußnote“ zu sein scheint - obwohl die damaligen Auseinandersetzungen zehn Jahre lang die Mentalität und das Bewusstsein eines wesentlichen Teils der Bevölkerung der Oberpfalz prägten. Zu Wort kommen vor allem „teilnehmende Beobachter“ der damaligen Geschehnisse. Insofern erhebt die Präsentation keinen neutralen Anspruch, will sie doch den damaligen Widerstand „verlebendigen“ und ihm „Gesichter“ verleihen.
Die Summe der Mitautoren wie Material- und Stofflieferanten versucht andererseits, einer allzu subjektiven und selektiven Darstellung entgegenzusteuern.

Das digitale Format wurde gewählt, weil es flexibler (und kostengünstiger) ist als traditionelle Printveröff entlichungen, weil es Zugriffsmöglichkeiten und Überarbeitung erleichtert und die Möglichkeiten medialer Darstellung (Filmsequenzen, Bilder, Lieder, sonstige Audio- und Videoquellen usw.) erweitert. Mit der sukzessiven Veröffentlichung seiner Teile ist das Projekt nicht abgeschlossen. Es versteht sich als Prozess, in dem nach und nach weitere Aspekte zum Thema erfasst werden können und sollen. Die LeserInnen sind eingeladen, diese zu ergänzen und weiter zu entwickeln. Auch die bereits online gestellten Teile können in diesem Sinne weitergeschrieben werden.

Die vorliegende Darstellung selbst ist bereits Resultat eines breiten Austauschprozesses. Gedankt sei den bisherigen Mitwirkenden, so unterschiedlich ihre Beiträge im Einzelnen auch sein mögen.
In alphabetischer Reihenfolge sind dies:

A
Helmut Achtner (Abensberg) - Stefan Adler (Regensburg) - Dr. Aoki Soko (Nagoya/Japan).

B
Claudia & Georg Balling (Bernhardswald) - Herbert Baumgärtner (Regensburg) - Wolfgang Beisert (Götti ngen) - Dr. Margit Berwing-Witt l (Burglengenfeld) - Claus Biegert (München) - Jürgen Blochberger (Regensburg) - Reinhold Blochberger (Regensburg) - Prof. Dr. Herbert Brekle (Regensburg).

C
Klaus Caspers (Regensburg).

D
Wolfgang Dehlinger (Salzkotten) - Harald Dobler (Viechtach).

E
Jörg Ermisch (Kellinghusen).

F
Erwin Frank (Regensburg) - Günter Frank (Hemau) - Thea Maria Fürst (Laaber)

G
Dr. Janine Gaumer (München) - Hermann Grabe (Donaustauf) - Jürgen Grande (Regensburg) - Ulrich Graß - (Freiburg i.Br.) - Horst Grimm (Nürnberg) - Dr. Dieter Groß (Regensburg) - Franz Grundler (Nabburg).


H
Andreas Hanauer (Regensburg) - Wolfgang Herzer (Weiden) - Brigitte Hese (Weiden) - Gaby Högerl (Obertraubling) - Klaus Hofmann (Regensburg) - Jürgen Huber (Regensburg)
.

K
Eva Keil (Schwandorf) - Dr. Eberhard Klein (†) (Brennberg) – Dieter Kirpal (Nittenau) - Eginhard König (Regensburg) - Helmut Köppl (Hausen) - Helmut Kroner (Altenschwand) - Richard Kurländer (München).

L
Manfred Langer (Schwandorf) - Anderl Lechner (München/Berlin) - Dr. Carsten Lenk (Regensburg) - Stefan Link (Kallmünz) - Erhard Löffler (Regensburg) - Georg Löser (Freiburg i. Br.).

M
Stefan Maier (Regensburg) - Markus Mayer (Regensburg) - Thomas Meier (Regensburg) -  Karl Heinz Mierswa (Regensburg) - Inge Moser (Regensburg).

N
Anselm Noffke (†) (Oldenborstel) - Wolfgang Nowak (Schwandorf).

O
Nikola Otto (Wien) - Thomas Otto (Parkstein) - Till Otto (Regensburg) - Dr. Uli Otto (Regensburg).

P
Clemens M. Peters (Regensburg) - Imogen Pfarr-Otto (Regensburg) - Inge Pfülb (Sinzing) - Toni Plommer (Regensburg) - Dr. Hans Pritschet (Regensburg) - Rainer Prüß (Flensburg) - Elli Pulina (Regensburg).

R
Gerlinde Reimann (Regensburg) - Thomas Rietschel (Frankfurt a.M.) - Thomas Ries (Bayreuth) - Manfred Rohm (Pentling).

Sch
Dr. Hermann Scheuerer-Englisch (Regensburg) - Erich Schmeckenbecher (Lorch-Unterkirneck) - Peter W. Schmidt (Regensburg) - Landrat a. D. Hans Schuierer (Schwandorf) - Bernd Schweinar (Teugn).

S
Ali Stadler (Wiesent) - Hans Stängl (Regensburg) - Dr. Peter Streck (Regensburg) - Dr. Heinz Stockinger (Salzburg) - Isolde Stöcker-Gietl (Regensburg).

T
Arthur Theisinger (Burglengenfeld) - Dr. Manuel Trummer (Regensburg).

V
Christian Veith (Regensburg) - Richard Vogl (Bernhardswald).

W
Robert Wachsmann (Ansbach) - Franz Waldmann (Wenzenbach) – Ludwig und Marianne Waldmann (Thanhausen) (Wenzenbach) - Dieter Weber (Regensburg) - Hans Well (Zankenhausen) - Michael Well (Ascholding) - Wolfram Welzer (Nürnberg) - Bertl Wenzl (Regensburg) - Vera Wetzler (Regensburg) - Friedrich Wies (Amberg) - Günter Wippel ( Freiburg i. Br.) - Günther Wippel (Freiburg i. Br.) - Reinhold Wittke (Regensburg) - Alexander Wolfrum (Bayreuth) - Alfred Wolfsteiner (Schwandorf) – Gerhard Wuttke (Regensburg) - Veit Wagner (Weiden).

Z
Dr. Jörg Zedler (Regensburg).


2. Zum Stand der fachlichen und wissenschaftlichen Aufarbeitung

Gerade in kulturwissenschaftlicher Hinsicht sind die Wackersdorfer Ereignisse nicht ausreichend aufgearbeitet. Schon auf dem Höhepunkt der Geschehnisse
hatte einer der Herausgeber, der Regensburger Volkskundler Uli Otto, ortsansässige Kulturwissenschaftler aufgerufen, die Anti -WAA-Bewegung der
Region zu begleiten und zu kommentieren. Beispielgebend sollte die bereits 1977 im badischen Wyhl gezeigte Ausstellung „Wyhl und Widerstand“ sein.
Doch erst in neuerer Zeit beginnen an der Universität Regensburg (in deren Einzugsbereich Wackersdorf liegt) Fächer wie die Bayerische Landes- und die
Kunstgeschichte, aber auch Fachbereiche wie die Katholische Theologie das Thema vereinzelt aufzugreifen.

Ein Überblick, inwieweit „Wackersdorf“ an anderen deutschen Universitäten Thema der Sozial- und Kulturwissenschaft en war, steht aus. Am Institut für Neuere und Neueste Geschichte der Schiller-Universität Jena jedenfalls untersuchte ein inzwischen, d.h. im Jahr 2017 abgeschlossenes Dissertationsprojekt von Janine Gaumer den „WAAhnsinn in der bayerischen Provinz. Der Konflikt um die atomare Wiederaufarbeitungsanlage in Wackersdorf 1980-1990“. Es beleuchtet die gesellschaftlichen Befindlichkeiten und die politische Kultur der Bundesrepublik aus der Perspektive einer Einzelfallstudie heraus, deren Thematik ein zentrales Konfliktfeld in den siebziger und achtziger Jahren war und es - wenn auch unter veränderten Bedingungen und Prämissen auch heute noch ist. Eine der zentralen Fragen konzentriert sich dabei auf das Staatsverständnis von Bürgern jenseits der intellektuellen Elite. In Wackersdorf standen Modus und Legitimität staatlicher Gewalt zur Disposition. Was der Staat mit welchen Mitt el durchsetzen kann und darf, diese Machtfrage war im Konflikt um die WAA von großer Bedeutung. Welche Erwartungen wurden von der Bevölkerung an den Staat und seine vollziehenden Organe gestellt? Welche Legitimität konnten sowohl Staat als auch Demonstranten in ihren Vorgehensweisen für sich beanspruchen, und welche internen Differenzen gab es darüber auf beiden Seiten? Wie wurden jeweils Begriffe wie ‚Freiheit‘ und ‚Sicherheit‘ definiert, die aus unterschiedlichen Gründen in Gefahr gesehen wurden? Die unterschiedlichen protestierenden Akteure in Wackersdorf werden dabei genauer in den Blick genommen und nach der Positionierung bestimmter Gruppen innerhalb des Protests - insbesondere den christlichen - und den Protest- und Radikalisierungsformen gefragt. Über diese konkrete Analyse des Protests hinaus stellt sich die Frage nach der energiepolitischen Bedeutung der WAA und ihrer Einordnung in die politische und wirtschaft liche Entwicklung der Energieversorgung in der Bundesrepublik. Die Expertenkultur, die in der Anti-Atomkraft-Bewegung eine enorme Bedeutung hatte, ist weiterhin ein Untersuchungsfeld, das in dem Dissertationsvorhaben eine Rolle spielt.

Bezeichnenderweise scheint die erste abgeschlossene wissenschaftliche Arbeit, die sich unter anderem mit Wackersdorf befasste, in Japan vorgelegt worden zu sein. Soki Aoki, Literatursoziologin an der literarischen Fakultät der Tohoku Universität in Sendai, verfasste ihre Dissertati on zum Thema „Die Entwicklung der Atom-Bewegung in Deutschland: Initiative zur umweltorientierten Gesellschaft “. Ihr Augenmerk richtete sich neben dem Entwicklungsprozess umweltfreundlicher Politik auch auf die Rolle der Umweltbewegungen und gibt einen Überblick über die Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland.

Inzwischen zeigen auch Leitung und Mitarbeiter des “Hauses der Bayerischen Geschichte“, das 2018 in Regensburg eröffnet werden soll, Bereitschaft , widerständigen Ereignissen wie „Wackersdorf“ Raum zu bieten. Denkanstöße kamen u.a. vom „Arbeitskreis Regensburger Bürger“, dessen Mitglieder sich schon in den 1980er Jahren in die Auseinandersetzungen eingeschaltet und Anti -WAA-Veranstaltungen aktiv initiiert oder unterstützt hatten. Nennenswert, aber leider nicht öffentlich zugänglich sind einige durch interessierte Lehrkräfte angeregte Facharbeiten an Schulen der Region.

Bereits im Vorfeld des Projektes wurde klar, dass öffentliche Förderung kaum zu beschaffen war. Anfragen wegen finanzieller Unterstützung wurden bislang abschlägig beschieden. So antwortete das Bayerische Staatsministerium für Bildung und Kultus, Wissenschaft und Kunst auf Anfrage: „ [W]ir haben Ihr Anliegen geprüft . Leider gibt es keine Fördermöglichkeit für ein solches Projekt im Bereich der Kulturförderung des Staatsministeriums und im Bereich Kulturfonds Bayern. Weitere mögliche Ansprechpartner, die als Förderer in Betracht kämen, sind uns leider nicht bekannt“. Von der Friedrich-Ebert-Stiftung kam die Antwort, man könne „keine großen Hoffnungen machen […], denn die Friedrich-Ebert-Stiftung ist keine finanzielle Stiftung. Wir sind verpflichtet, die uns zur Verfügung gestellten Gelder für eigene Projekte zu verwenden“. Reaktionen der Heinrich-Böll-Stiftung der GRÜNEN blieben zunächst aus, obwohl das Thema doch quasi zum Gründungsmythos der Partei gehört; eine spätere Antwort war ebenfalls negativ. Ihr bayerischer Ableger antwortete zügig, aber auch abschlägig:
„Die Petra-Kelly-Stiftung hat als grünnahes Bildungswerk den Auftrag, in Bayern eigenständig Veranstaltungen im Rahmen politischer Bildung durchzuführen.
Auf Grund der Vorgaben unserer Geldgeber – Bayerisches Kultusministerium und Bundesinnenministerium – dürfen wir weder sponsern noch fördern oder finanzielle Unterstützung gewähren. Es tut mir leid, Ihnen nichts anderes mitteilen zu können. Für Ihr Vorhaben wünsche ich Ihnen viel Erfolg.“ Ebenfalls eine Absage kam von der Rosa-Luxemburg-Stiftung, wenngleich man Interesse am Thema bekundete. Eine erste Förderung erfolgte dann jedoch seitens eines engagierten Regensburger Privatmannes, Ulrich Lenz von „Ostwind“. Dagegen wurde unser Anliegen einer Förderung seitens der Stadt Regensburg – hier in Person des Oberbürgermeisters sowie einer Kulturberaterin der Stadt – in einem Schreiben vom 26. April sowie einer Mail vom 03. Juni 1916 abschlägig beschieden.

Mit der hier sichtbar werdenden Abschottung des etablierten Politikbetriebs vom „Druck der Straße“ und den daraus folgenden demokratischen und kulturellen Implikationen hatte sich Bernd Jürgen Warneken bereits Ende der 1980er Jahre beschäftigt. Im Einleitungskapitel zum Band Massenmedium Straße. Zur Kulturgeschichte der Demonstration stellt er fest:

„Zu vermuten ist, dass auch die politische und kulturelle Distanz zum Massenmedium Straße dieses als bloße Randerscheinung des politischen Lebens erscheinen ließ und überdies gefürchtet wurde, dass die ‚Unseriosität‘ des Gegenstands auf ihre Analytiker abfärben könnte. Als sich [...] die Historik seit den 1970er Jahren mehr als vorher der Geschichte des sozialen Protests zuwandte, galt das Interesse eher spektakulären Aufruhrhandlungen als ‚bloßen Demonstrationen‘, die meist keine greifbaren Folgen auf der Ebene des politischen Systems und der sozialen Strukturen aufzuweisen hatten. Erst als sich in und neben der sozialhistorischen Forschung auch kulturhistorische Interessen am sozialen Protest zu Wort meldeten, konnte das ereignis-, struktur- und alltagshistorisch eher irrelevant erscheinende Handlungsmuster Demonstration allmählich Bearbeiter finden, die erkannten, dass die ‚Zeichen, Symbole und
Rituale solcher Aktionen, eine wichtige Rolle bei der Strukturierung politischer Erfahrung, insbesondere bei dem Aufbau kollektiver Identitäten spielen, dass ihre Abläufe und die dabei praktizierten Aktionsmuster in hervorragender Weise Auskünfte über Konvergenzen und Verwerfungen von Alltags- und politischer Kultur, von Volks- und Parteikultur und über die Amalgamierungsformen von Tradition und Moderne in der ‚Volkspolitik‘ geben können.“

Ein Grundzug des Verdrängens charakterisiert zumindest in wesentlichen Teilen auch die regionale Kulturgeschichtsschreibung - so, wenn eine aktuelle Musikgeschichte Regensburgs den Beitrag regionaler Musiker im Widerstand gegen die WAA und damit die Rolle seiner kulturelle Träger nicht zur Kenntnis nimmt. Dabei ging der Widerstand einer Vielzahl an Kulturschaffenden gegen die WAA weit über eine bloße Begleitung der Aktionen hinaus. Als Beispiel genannt sei die österreichische Initiative PLAGE aus Salzburg, die bis heute besteht. 1986 und 1988 führte sie in Verbindung mit namhaft en Musikern, Schauspielern und weiteren Künstlern zwei große Anti -Atom-Wochenenden durch, die „Salzburger Protestspiele“. Die phantasievollen Aktionen der PLAGE in Wackersdorf wie in Salzburg führten sogar dazu, dass die bayerische Staatsregierung die Landesgrenze schloss, um Widerständlern die Einreise zu verweigern. Der bayerische Ministerpräsident F.J. Strauß, bis dahin regelmäßig Gast der Salzburger Festspiele, sah sich daraufh in gar zu deren Boykott veranlasst.


 

3. Kulturtheoretische Anmerkungen


Fast zehn Jahre lang bestimmten die Auseinandersetzungen um die geplante Aufarbeitungsanlage für abgebrannte atomare Brennstäbe das Leben und den Alltag eines Großteils der oberpfälzer Bevölkerung. Die Region war zwischen 1980 und 1989 geprägt von zum Teil erbitterten Auseinandersetzungen und verschiedensten Aktionen der BIs und zahlreicher Einzelpersonen. Mit ihren ureigensten Mitteln, Fähigkeiten und Interessen traten sie damit gleichzeitig für mehr Bürgerbeteiligung und Demokratie ein. Gerade Literaten, bildende Künstler und Musiker aller Stilrichtungen und Genres wurden zu Sympathieträgern des Widerstands. Ohne ihre Unterstützung hätte der Widerstand anders ausgesehen - weniger spontan, weniger vergnüglich, weniger optimistisch.

In der praktischen Forschung zeigen diese Ereignisse exemplarisch, wie Soziologie und Volkskunde arbeitsteilig im Verständnis solcher Vorgänge kooperieren. Zwar waren die Auseinandersetzungen um die WAA einerseits von zeitweise bürgerkriegsähnlichen Zuständen geprägt. Soziologisch gefragt: Wie wurden die Beteiligten mit Notlagen und Gefahrensituationen fertig? An welchen „Traditionen“ orientierte man sich im Verlauf der Auseinandersetzungen, welche bildeten sich neu heraus? Andererseits und in kulturwissenschaftlicher Perspektive: Wie entwickelten sich Formen des Widerstandes, die Gemeinschaftlichkeit und Solidarität über das formelle politische Ziel hinaus schufen? Wie organisierte man das (ja meist kurzfristige) Zusammensein unter konfliktgeladenen äußeren (und gewiss auch gelegentlich inneren) Umständen? Wie etwa funktionierte das Zusammenleben in den zeitweise existierenden Hüttendörfern? Welche kulturellen Mechanismen integrierten die in Hinblick auf Generationsstruktur, politische Ausgangslagen und soziale Zugehörigkeit doch sehr diversen Gruppen, die sich in Wackersdorf auf engem Raum trafen? Wie trugen sie ihre Botschaft in die Region?

Die Beantwortung solcher Fragen setzt zudem einen weit gefassten Begriffvon „Alltagskultur“ voraus, wie ihn Helge Gerndt skizziert: „Im Gegensatz zu einem traditionellen bürgerlichen Kulturverständnis, das auf Erscheinungen gerichtet ist, die vor allem einer ‚schöngeistigen Überhöhung‘ des Lebens dienen“, geht es um “die Gesamtheit menschlichen Symbolschaffens“. Es umfasst materielle Gegenstände, Verhaltensformen, Sprachgebilde, soziale Institutionen und Wertsetzungen und schließt Literatur, Theater, Kunst und Musik ein.

Es dürfte sich nicht um reinen Zufall handeln, dass um die Zeit der WAA-Auseinandersetzungen - als Beispiel eben einer Vielzahl ähnlicher Aktivitäten im Umfeld der „neuen sozialen Bewegungen“ auch die Kulturwissenschaften (hier: die Volkskunde als universitäres Fach) eine paradigmatische Umorientierung durchlaufen. Die kulturanthropologische Neubestimmung des akademischen Arbeitsfelds reicht dabei (wie die neuen Formen des Straßenprotests) in die „aufrührerischen“ späten 1960er Jahre zurück. Schon 1969 hatte Ina-Maria Greverus gefordert:

„Unseren Beitrag sehe ich darin, die Muster kultureller Formen und kulturellen Verhaltens innerhalb der differenzierten europäischen Zivilisationswelt zu untersuchen. Wo wir die Einsätze finden, […] ist dabei von sekundärer Bedeutung und der Forscherneigung überlassen. Das primäre Anliegen dürfte die Erhellung eines bestimmten Kulturmusters sein, als variable und als solche in ihrer räumlichen, geschichtlichen, sozialen und psychischen Bedingtheit zu erfassenden Manifestati on menschlicher Anlagen. Wir würden damit innerhalb einer allgemeinen Anthropologie als Dachdisziplin an den Erkenntnissen der empirischen, physischen, psychischen und sozialen Anthropologie partizipieren und unsererseits einen Beitrag als kulturelle Anthropologie leisteten.“

Im Gefolge der sogenannten Falkensteiner Tagung 1970 begann man, stärker gegenwartsbezogen zu forschen und sich nun vermehrt soziokulturellen Problemen zu widmen: „Volkskunde analysiert die Vermitt lung (die sie bedingenden Ursachen) und die sie begleitenden Prozesse von kulturalen Werten in Objektivationen (Güter und Normen) und Subjekti vationen (Attitüden und Meinungen). Ziel ist es, an der Lösung sozio-kultureller Probleme mitzuwirken“. Der Paradigmenwechsel war so tiefgreifend, dass er mit der Umbenennung vieler volkskundlicher Universitätsinstitute verbunden war.

Die neue Vergleichende Kulturwissenschaft arbeitet nun „mit anderen Sozialwissenschaften an realen Problemen, die immer auch ihre kulturale Seite haben. Die Analyse dieser Seite gesellschaftlichen Lebens ist die Aufgabe der Volkskunde“. Oder mit Wolfgang Brückner (und im für den WAA-Widerstand so zentralen Jahr 1987): „Heute versteht sich die Vergleichende Kulturwissenschaft (oder Volkskunde) weitgehend als Sozialgeschichte regionaler Kultur oder als empirische Kulturforschung des sozialen Wandels“. Kulturforschung ist damit komplexe Gesellschaftsanalyse. Alle kulturellen Objektivationen und Subjektivationen müssen jeweils aufeinander bezogen statt nach isolierten soziokulturellen Standards und Patterns untersucht werden.

Elisabeth List schreibt zur aktualisierten Selbstverortung der Kulturwissenschaft en, dass es ohne Zweifel der thematische und theoretische Blickwinkel sei, „der die Transformation der traditionellen Geisteswissenschaften hin zu stärker gegenwartsorientierten Kulturwissenschaften durch Momente der politischen Neuorientierung der intellektuellen Strömungen innerhalb und außerhalb der Universitäten mitbestimmt“, wenn dies auch „nicht notwendig eine Politisierung der Wissenschaften“ bedeutet, „so wie sie in der Zeit der Studentenbewegung in aller Form gefordert wurde. […] Auch die Neuentdeckung und Neubewertung von Alltag und Lebenswerk gehörten sicher zu jenen theoretischen Innovationen, die sich politischen Impulsen von außen verdanken.“ Und an anderer Stelle führt sie aus:

„Eines der kennzeichnenden Merkmale einer ausdrücklich kulturwissenschaftlichen Orientierung in der Entwicklung traditioneller Fächer der geisteswissenschaftlichen und sozialwissenschaftlichen Fakultäten ist eine neue Aufmerksamkeit für die gesellschaftliche bzw. soziale Dimension kultureller Prozesse und Phänomene.“

Gerade in den letzten Jahrzehnten sei „die kulturelle Dimension gesellschaftlicher Prozesse stärker in den Blickpunkt der Forschung“ getreten. Eine aktive Rolle in der Veränderung des kulturwissenschaftlichen Zugangs spielten umweltkritische Aktionen wie der WAA-Widerstand auch in direkterer Weise.Nach Wolfgang Kaschuba lässt sich „die Entwicklung einer ökologischen Perspektive“ nicht allein aus den Bemühungen von geistes- und naturwissenschaftlichen Kritikern des Zivilisations- und Forschungskonzepts erklären. Auch hier waren und sind die ökologischen und ‚grünen‘ Bewegungen mitverantwortlich dafür, dass neue Fragen und Sensibilitäten im Blick auf das Verhältnis Mensch-Natur entstehen. Deutlicher differenziert werden nun auch die Zugänge zum Forschungsgegenstand. Doris Bachmann-Medick beschreibt die Veränderungen bezüglich der Aufgabenfelder der Kulturwissenschaften dahingehend, dass sie „die Aufmerksamkeit verstärkt auf Materialität, Medialität und Täti gkeitsformen des Kulturellen“ richten, „um genauer zu erkennen, wie und in welchen Prozessen und kulturspezifischen Ausprägungen Geistiges und Kulturelles in einer jeweiligen Gesellschaft überhaupt produziert werden“.

Der früher scheinbar so festgefügte Begriff „Kultur“ weitet sich aus zu distinkten, wenn auch verknüpft en Forschungsfeldern. Martin Scharfe geht in diesem Sinne von einem Kulturbegriff „im öffentlichen Sprachgebrauch aus“ und definiert daraus „vier Bedeutungswolken“, von denen nur die erste „Hochkultur“ meint: In einer ersten Wolke ist Kultur in einem engeren Sinne verstanden, es geht um ‚höhere Kultur‘, gemeint sind Veranstaltungen im Bereich der bildungsbürgerlichen, der akademischen, der Oberklassen-Kultur. Die Stichworte lauten: Theater, Konzerte, Ballett , Kabarett , Kunstausstellungen, Lesungen. In Zeitungen, die keinen eigentlichen Feuilleton-Teil führen, mag dieser Bereich unter der Rubrik ‚Kultur am Wochenende‘ erscheinen – womit aber allein schon durch die zeitliche Zuordnung zum Feiertags- und Feierabendbereich der vom Alltag abgehobene Charakter dieses Verständnisses von Kultur bezeichnet wäre“.

Den Bereich der „E-Kultur“ besonders herauszuheben ist deswegen sinnvoll, weil - oft übersehen - nicht wenige der damaligen Kultur-Veranstaltungen ihr entstammten, so etwa in Theaterstücken, Konzerten, Kunstausstellungen und Lesungen. Gerade dieses Spannungsfeld zwischen bildungsbürgerlichem Kulturbegriff , bewusst politischer, aufklärerischer und gesellschaftskritischer Intention und praktischem Widerstand (der ja auch soziale Grenzen verschwimmen ließ), rief die Kritik derjenigen hervor, die auf einem unpolitischen Charakter von Kultur beharrten und jede Abwendung vom Konzept „l’art pour l’art“ als Missbrauch der Kultur diskreditierten.

Gewiss wären im vorliegenden Projekt noch weitere Ebenen kulturwissenschaftlicher Durchdringung denkbar, etwa entsprechen Aleida Assmanns auf sechs Kulturbegriffe erweiterter Typologie:

• „Pflege im Sinne von Verbesserung und Aufwertung einer Sache (z.B. Fitnesskultur);
• geographische und politische Großgebilde
• (z.B. die französische Kultur, die westliche Kultur);
• inklusiver Begriff für alles, was Menschen tun und mit ihnen zusammenhängt (ethnographischer Begriff);
• elitärer Begriff von Hochkultur;
• Beherrschung der Triebkultur (Zivilisation);
• Kritische bzw. auratische Gegenwelt zur Realität (Frankfurter Schule).“

Assmanns Hinweise wären zentral für eine Ausweitung des Projekts hin zu einer tieferen Durchdringung auch der Konflikte, etwas der tieferliegenden Spannungen, die in den betroffenen Gemeinden, Familien, ja Individuen vor Ort sich nicht selten als spaltend erwiesen. Doch im Mittelpunkt der vorgelegten Untersuchungen stehen eher die kulturellen Äußerungen von Menschen, die auf ästhetischem Wege und mit den zeitgenössisch verfügbaren Mitteln ihre Ablehnung der Wackersdorfer „Atomfabrik“ anderen gegenüber manifestieren sollten.

Hier aber liegt ein besonderer Schwerpunkt auf der historischen Analyse. Bei aller Unterschiedlichkeit in Forschungsschwerpunkten und Methodologie ergänzen sich Volkskunde und Gegenwartsanalyse ja. Auf diese Verschränkung von Zeitgeschichte und Kulturwissenschaft verweist Anette Vowinckel.Zusammenfassend schreibt sie:

So unterschiedlich die Produkte beider Disziplinen auch erscheinen mögen. Im Hinblick auf ihre epistemologischen Grundlagen gibt es mehr Gemeinsamkeiten als Differenzen; die Unterschiede sind eher gradueller als prinzipieller Art. Tatsächlich stellt die Kulturgeschichte als Teilgebiet der Kultur- wie auch der Geschichtswissenschaft eine beachtliche Schnittmenge dar, die in der Kulturwissenschaft durch die Kulturtheorie, in der Geschichtswissenschaft durch Sozial-, Politik- und Wirtschaftsgeschichte flankiert wird. Gehen wir zudem davon aus, dass die Kulturwissenschaft sich eher über die Methoden als über den Gegenstand Kultur definiert, so ist auch eine ‚Verkulturwissenschaftlichung‘ sozial-, politik- und wirtschaftswissenschaftlicher Arbeiten denkbar und sinnvoll.
Die geschichtswissenschaftliche Forschung zur Frühen Neuzeit hat solche Impulse schon seit längerem aufgenommen; in der methodisch eher konservativen Zeitgeschichtsforschung steht dies noch am Anfang.

Die Relevanz des Themas für die Gesellschafts- und Kulturwissenschaften besteht letztendlich darin, dass man komplexe Phänomene wie den WAA-Widerstand und dessen Langzeitfolgen sowohl in ihren objektiven Kontexten als auch in ihren Intentionen und Wirkungen zu begleiten hat. Viele durchaus staatstragende Bürger entfremdeten sich – einige zeitweise, andere für immer - von Regierung, Staatsorganen und Volksparteien, denen sie nun Misstrauen und Abneigung entgegenbrachten. Auf der anderen Seite bewirkten die Geschehnisse, dass die Ablehnung der Atomkraft, die sich seit den 1970er Jahren vor allem in Deutschland in der Gesellschaft ausbreitete, Mitte der 1980er Jahre in der Mitt e der Gesellschaft ankam und letztendlich mehrheitsfähig wurde. Praktische Kultur war und ist so mehr als nur eine „Begleiterscheinung“ beim (hoffentlich erfolgreichen) endgültigen Atomausstieg. Sie begleitete und verstärkte von Anfang auch die Forderungen einer nach politischer Partizipation strebenden Bürgergesellschaft.



4. Quellenlage


Unter den regionalen Bürgerinitiativen (BIs), die zu den Hauptträgern des Kampfes gegen die WAA wurden, sind zu nennen (in alphabetischer Reihenfolge) die BI Amberg, die BI Cham, die BI Nittenau, die BIWAK Regensburg, die BI Regenstauf, die BI Schwandorf, die BI Schwarzenfeld, die BI Sulzbach-Rosenberg und die BI Weiden. Weitere Gruppierungen in anderen Orten wären zu ergänzen. Unter den internationalen Gruppen heraus sticht die PLAGE Salzburg als Initiative, die bis heute besteht.


Inzwischen ist ein Teil der Materialien der Bürgerinitiativen in das Bayerische Staatsarchiv Amberg eingegangen. Sie werden dort zentral gelagert und sind öffentlich zugänglich. Einige Aktenkonvolute allerdings stehen der Öffentlichkeit erst ab 2020 zur Verfügung bzw. werden erst nach Genehmigung der BIs zugänglich gemacht. Im Privatbesitz dürften sich weitere Quellen befinden, die bisher nicht an Archive weitergegeben wurden. Hier allerdings drängt schon allein lebensgeschichtlich die Zeit. Denn der Widerstand gegen die WAA gehörte so sehr zum Alltag, dass er aus sich heraus wenig „erinnerungswürdig“ war. Persönliche Papiere, Dokumente und Fotos wurden nach dem Scheitern der WAA-Pläne bestenfalls in Ordnern, Koffern oder Kisten verstaut, schlimmstenfalls weggeworfen. Viele der damals Aktiven hätten sich nicht im Traum vorstellen können, dass sie einmal von Interesse sein könnten. Die Generation ihrer „wackersdorfgeschädigten“ Kinder befasste sich mit den „alten Geschichten“ kaum mehr. Auf die ausführlichere Literaturliste im Rahmen des Projekts sei gesondert hingewiesen. Das wesentlich Neue hier ist, dass sich die Bearbeiter der vorgelegten Texte weitgehend auf Primärquellen, vor allem aus der Region, stützen. Dabei gehen publiziertes und erinnertes Material Hand in Hand. Gerade die Rekonstruktion der Ereignisse aus dem Gedächtnis von Zeitzeugen kann sehr selektiv sein und muss anhand weiterer Quellen überprüft werden.

Materialien wurden von Anbeginn durch engagierte WAA-Gegner systematisch gesammelt - insbesondere von Wolfgang Nowak aus Schwandorf, dessen Haus im Laufe der Jahre zum umfangreichen Archiv wurde: Plakate, Ankündigungen, lokale bzw. regionale Zeitungsanzeigen, Berichte und Besprechungen, Bücher, Lieder, Fotos, Dias, Tonträger, Filme und sonstige Informationen zu unterschiedlichen Initiativen, Trägern der Bewegung und Aktionen. Nowak hat sie über Jahrzehnte hinweg und (wenn man von der zeitweiligen Zuarbeit einer ABM-Kraft absieht) ohne öffentliche Unterstützung in Ansätzen sogar “archivalisch“ aufbereitet und teilweise digitalisiert. Nutzer seiner Sammlung können mit sachkundiger Unterstützung rechnen. Auch ein Teil seiner Unterlagen fand den Weg ins Staatsarchiv Amberg, lagert dort allerdings weitgehend unbearbeitet im Archivkeller.

Wesentliche Einblicke gewährt darüber hinaus die Fotosammlung von Herbert Baumgärtner, der seinerzeit mit seiner Kamera teilnehmender Beobachter vieler Aktionen war. Er suchte als akribischer Zeitzeuge nicht das „kunstvolle“ sondern das „wirkmächtige“ Foto. Was Liedmaterialien und sonstige Informationen anbelangt, seien stellvertretend Eginhard König, Helmut Köppl und Uli Otto von der damaligen „Folk- und Volksmusikwerkstatt Regensburg und Ostbayern e.V.“ sowie die Schwandorfer Manfred Langer und Alfred Wolfsteiner genannt, die weitgehend unabhängig voneinander gesammelt aber später oft Materialien, vor allem Lieder, untereinander getauscht haben. Erwähnung finden soll auch das lokale Volkskundemuseum Burglengenfeld, in dem sich ein umfangreiches Konvolut von Plakaten und anderen Materialien aus dem oberpfälzer Anti -WAA-Widerstand findet.

Von großem Interesse sind schließlich die Chroniken von Bürgerinitiativen, Entstehungs- und (eventuelles) Auflösungsdatum, Vorstands- und Mitgliederlisten, BI-Satzungen, Sitzungsprotokolle, die Aufschlüsse über ihre (gerade auch kulturellen) Aktivitäten geben könnten, BI-Zeitschriften, Fotos, Briefwechsel, Zeitungsartikel, Plakate, Flugblätter und sonstige Archivalien. Rückmeldungen auf diesbezügliche Anfragen kamen aus Schwandorf und Cham, in Ansätzen auch aus Amberg und Weiden. Über die Unterlagen und Archive anderer BIs - manche haben sich inzwischen aufgelöst - liegen momentan keine weiteren Informationen vor.

 

Anmerkungen und Fußnoten finden sich im downloadbaren pdf-Dokument "Historischer Überblick ..."  Download