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3. Kulturtheoretische Anmerkungen


Fast zehn Jahre lang bestimmten die Auseinandersetzungen um die geplante Aufarbeitungsanlage für abgebrannte atomare Brennstäbe das Leben und den Alltag eines Großteils der oberpfälzer Bevölkerung. Die Region war zwischen 1980 und 1989 geprägt von zum Teil erbitterten Auseinandersetzungen und verschiedensten Aktionen der BIs und zahlreicher Einzelpersonen. Mit ihren ureigensten Mitteln, Fähigkeiten und Interessen traten sie damit gleichzeitig für mehr Bürgerbeteiligung und Demokratie ein. Gerade Literaten, bildende Künstler und Musiker aller Stilrichtungen und Genres wurden zu Sympathieträgern des Widerstands. Ohne ihre Unterstützung hätte der Widerstand anders ausgesehen - weniger spontan, weniger vergnüglich, weniger optimistisch.

In der praktischen Forschung zeigen diese Ereignisse exemplarisch, wie Soziologie und Volkskunde arbeitsteilig im Verständnis solcher Vorgänge kooperieren. Zwar waren die Auseinandersetzungen um die WAA einerseits von zeitweise bürgerkriegsähnlichen Zuständen geprägt. Soziologisch gefragt: Wie wurden die Beteiligten mit Notlagen und Gefahrensituationen fertig? An welchen „Traditionen“ orientierte man sich im Verlauf der Auseinandersetzungen, welche bildeten sich neu heraus? Andererseits und in kulturwissenschaftlicher Perspektive: Wie entwickelten sich Formen des Widerstandes, die Gemeinschaftlichkeit und Solidarität über das formelle politische Ziel hinaus schufen? Wie organisierte man das (ja meist kurzfristige) Zusammensein unter konfliktgeladenen äußeren (und gewiss auch gelegentlich inneren) Umständen? Wie etwa funktionierte das Zusammenleben in den zeitweise existierenden Hüttendörfern? Welche kulturellen Mechanismen integrierten die in Hinblick auf Generationsstruktur, politische Ausgangslagen und soziale Zugehörigkeit doch sehr diversen Gruppen, die sich in Wackersdorf auf engem Raum trafen? Wie trugen sie ihre Botschaft in die Region?

Die Beantwortung solcher Fragen setzt zudem einen weit gefassten Begriffvon „Alltagskultur“ voraus, wie ihn Helge Gerndt skizziert: „Im Gegensatz zu einem traditionellen bürgerlichen Kulturverständnis, das auf Erscheinungen gerichtet ist, die vor allem einer ‚schöngeistigen Überhöhung‘ des Lebens dienen“, geht es um “die Gesamtheit menschlichen Symbolschaffens“. Es umfasst materielle Gegenstände, Verhaltensformen, Sprachgebilde, soziale Institutionen und Wertsetzungen und schließt Literatur, Theater, Kunst und Musik ein.

Es dürfte sich nicht um reinen Zufall handeln, dass um die Zeit der WAA-Auseinandersetzungen - als Beispiel eben einer Vielzahl ähnlicher Aktivitäten im Umfeld der „neuen sozialen Bewegungen“ auch die Kulturwissenschaften (hier: die Volkskunde als universitäres Fach) eine paradigmatische Umorientierung durchlaufen. Die kulturanthropologische Neubestimmung des akademischen Arbeitsfelds reicht dabei (wie die neuen Formen des Straßenprotests) in die „aufrührerischen“ späten 1960er Jahre zurück. Schon 1969 hatte Ina-Maria Greverus gefordert:

„Unseren Beitrag sehe ich darin, die Muster kultureller Formen und kulturellen Verhaltens innerhalb der differenzierten europäischen Zivilisationswelt zu untersuchen. Wo wir die Einsätze finden, […] ist dabei von sekundärer Bedeutung und der Forscherneigung überlassen. Das primäre Anliegen dürfte die Erhellung eines bestimmten Kulturmusters sein, als variable und als solche in ihrer räumlichen, geschichtlichen, sozialen und psychischen Bedingtheit zu erfassenden Manifestati on menschlicher Anlagen. Wir würden damit innerhalb einer allgemeinen Anthropologie als Dachdisziplin an den Erkenntnissen der empirischen, physischen, psychischen und sozialen Anthropologie partizipieren und unsererseits einen Beitrag als kulturelle Anthropologie leisteten.“

Im Gefolge der sogenannten Falkensteiner Tagung 1970 begann man, stärker gegenwartsbezogen zu forschen und sich nun vermehrt soziokulturellen Problemen zu widmen: „Volkskunde analysiert die Vermitt lung (die sie bedingenden Ursachen) und die sie begleitenden Prozesse von kulturalen Werten in Objektivationen (Güter und Normen) und Subjekti vationen (Attitüden und Meinungen). Ziel ist es, an der Lösung sozio-kultureller Probleme mitzuwirken“. Der Paradigmenwechsel war so tiefgreifend, dass er mit der Umbenennung vieler volkskundlicher Universitätsinstitute verbunden war.

Die neue Vergleichende Kulturwissenschaft arbeitet nun „mit anderen Sozialwissenschaften an realen Problemen, die immer auch ihre kulturale Seite haben. Die Analyse dieser Seite gesellschaftlichen Lebens ist die Aufgabe der Volkskunde“. Oder mit Wolfgang Brückner (und im für den WAA-Widerstand so zentralen Jahr 1987): „Heute versteht sich die Vergleichende Kulturwissenschaft (oder Volkskunde) weitgehend als Sozialgeschichte regionaler Kultur oder als empirische Kulturforschung des sozialen Wandels“. Kulturforschung ist damit komplexe Gesellschaftsanalyse. Alle kulturellen Objektivationen und Subjektivationen müssen jeweils aufeinander bezogen statt nach isolierten soziokulturellen Standards und Patterns untersucht werden.

Elisabeth List schreibt zur aktualisierten Selbstverortung der Kulturwissenschaft en, dass es ohne Zweifel der thematische und theoretische Blickwinkel sei, „der die Transformation der traditionellen Geisteswissenschaften hin zu stärker gegenwartsorientierten Kulturwissenschaften durch Momente der politischen Neuorientierung der intellektuellen Strömungen innerhalb und außerhalb der Universitäten mitbestimmt“, wenn dies auch „nicht notwendig eine Politisierung der Wissenschaften“ bedeutet, „so wie sie in der Zeit der Studentenbewegung in aller Form gefordert wurde. […] Auch die Neuentdeckung und Neubewertung von Alltag und Lebenswerk gehörten sicher zu jenen theoretischen Innovationen, die sich politischen Impulsen von außen verdanken.“ Und an anderer Stelle führt sie aus:

„Eines der kennzeichnenden Merkmale einer ausdrücklich kulturwissenschaftlichen Orientierung in der Entwicklung traditioneller Fächer der geisteswissenschaftlichen und sozialwissenschaftlichen Fakultäten ist eine neue Aufmerksamkeit für die gesellschaftliche bzw. soziale Dimension kultureller Prozesse und Phänomene.“

Gerade in den letzten Jahrzehnten sei „die kulturelle Dimension gesellschaftlicher Prozesse stärker in den Blickpunkt der Forschung“ getreten. Eine aktive Rolle in der Veränderung des kulturwissenschaftlichen Zugangs spielten umweltkritische Aktionen wie der WAA-Widerstand auch in direkterer Weise.Nach Wolfgang Kaschuba lässt sich „die Entwicklung einer ökologischen Perspektive“ nicht allein aus den Bemühungen von geistes- und naturwissenschaftlichen Kritikern des Zivilisations- und Forschungskonzepts erklären. Auch hier waren und sind die ökologischen und ‚grünen‘ Bewegungen mitverantwortlich dafür, dass neue Fragen und Sensibilitäten im Blick auf das Verhältnis Mensch-Natur entstehen. Deutlicher differenziert werden nun auch die Zugänge zum Forschungsgegenstand. Doris Bachmann-Medick beschreibt die Veränderungen bezüglich der Aufgabenfelder der Kulturwissenschaften dahingehend, dass sie „die Aufmerksamkeit verstärkt auf Materialität, Medialität und Täti gkeitsformen des Kulturellen“ richten, „um genauer zu erkennen, wie und in welchen Prozessen und kulturspezifischen Ausprägungen Geistiges und Kulturelles in einer jeweiligen Gesellschaft überhaupt produziert werden“.

Der früher scheinbar so festgefügte Begriff „Kultur“ weitet sich aus zu distinkten, wenn auch verknüpft en Forschungsfeldern. Martin Scharfe geht in diesem Sinne von einem Kulturbegriff „im öffentlichen Sprachgebrauch aus“ und definiert daraus „vier Bedeutungswolken“, von denen nur die erste „Hochkultur“ meint: In einer ersten Wolke ist Kultur in einem engeren Sinne verstanden, es geht um ‚höhere Kultur‘, gemeint sind Veranstaltungen im Bereich der bildungsbürgerlichen, der akademischen, der Oberklassen-Kultur. Die Stichworte lauten: Theater, Konzerte, Ballett , Kabarett , Kunstausstellungen, Lesungen. In Zeitungen, die keinen eigentlichen Feuilleton-Teil führen, mag dieser Bereich unter der Rubrik ‚Kultur am Wochenende‘ erscheinen – womit aber allein schon durch die zeitliche Zuordnung zum Feiertags- und Feierabendbereich der vom Alltag abgehobene Charakter dieses Verständnisses von Kultur bezeichnet wäre“.

Den Bereich der „E-Kultur“ besonders herauszuheben ist deswegen sinnvoll, weil - oft übersehen - nicht wenige der damaligen Kultur-Veranstaltungen ihr entstammten, so etwa in Theaterstücken, Konzerten, Kunstausstellungen und Lesungen. Gerade dieses Spannungsfeld zwischen bildungsbürgerlichem Kulturbegriff , bewusst politischer, aufklärerischer und gesellschaftskritischer Intention und praktischem Widerstand (der ja auch soziale Grenzen verschwimmen ließ), rief die Kritik derjenigen hervor, die auf einem unpolitischen Charakter von Kultur beharrten und jede Abwendung vom Konzept „l’art pour l’art“ als Missbrauch der Kultur diskreditierten.

Gewiss wären im vorliegenden Projekt noch weitere Ebenen kulturwissenschaftlicher Durchdringung denkbar, etwa entsprechen Aleida Assmanns auf sechs Kulturbegriffe erweiterter Typologie:

• „Pflege im Sinne von Verbesserung und Aufwertung einer Sache (z.B. Fitnesskultur);
• geographische und politische Großgebilde
• (z.B. die französische Kultur, die westliche Kultur);
• inklusiver Begriff für alles, was Menschen tun und mit ihnen zusammenhängt (ethnographischer Begriff);
• elitärer Begriff von Hochkultur;
• Beherrschung der Triebkultur (Zivilisation);
• Kritische bzw. auratische Gegenwelt zur Realität (Frankfurter Schule).“

Assmanns Hinweise wären zentral für eine Ausweitung des Projekts hin zu einer tieferen Durchdringung auch der Konflikte, etwas der tieferliegenden Spannungen, die in den betroffenen Gemeinden, Familien, ja Individuen vor Ort sich nicht selten als spaltend erwiesen. Doch im Mittelpunkt der vorgelegten Untersuchungen stehen eher die kulturellen Äußerungen von Menschen, die auf ästhetischem Wege und mit den zeitgenössisch verfügbaren Mitteln ihre Ablehnung der Wackersdorfer „Atomfabrik“ anderen gegenüber manifestieren sollten.

Hier aber liegt ein besonderer Schwerpunkt auf der historischen Analyse. Bei aller Unterschiedlichkeit in Forschungsschwerpunkten und Methodologie ergänzen sich Volkskunde und Gegenwartsanalyse ja. Auf diese Verschränkung von Zeitgeschichte und Kulturwissenschaft verweist Anette Vowinckel.Zusammenfassend schreibt sie:

So unterschiedlich die Produkte beider Disziplinen auch erscheinen mögen. Im Hinblick auf ihre epistemologischen Grundlagen gibt es mehr Gemeinsamkeiten als Differenzen; die Unterschiede sind eher gradueller als prinzipieller Art. Tatsächlich stellt die Kulturgeschichte als Teilgebiet der Kultur- wie auch der Geschichtswissenschaft eine beachtliche Schnittmenge dar, die in der Kulturwissenschaft durch die Kulturtheorie, in der Geschichtswissenschaft durch Sozial-, Politik- und Wirtschaftsgeschichte flankiert wird. Gehen wir zudem davon aus, dass die Kulturwissenschaft sich eher über die Methoden als über den Gegenstand Kultur definiert, so ist auch eine ‚Verkulturwissenschaftlichung‘ sozial-, politik- und wirtschaftswissenschaftlicher Arbeiten denkbar und sinnvoll.
Die geschichtswissenschaftliche Forschung zur Frühen Neuzeit hat solche Impulse schon seit längerem aufgenommen; in der methodisch eher konservativen Zeitgeschichtsforschung steht dies noch am Anfang.

Die Relevanz des Themas für die Gesellschafts- und Kulturwissenschaften besteht letztendlich darin, dass man komplexe Phänomene wie den WAA-Widerstand und dessen Langzeitfolgen sowohl in ihren objektiven Kontexten als auch in ihren Intentionen und Wirkungen zu begleiten hat. Viele durchaus staatstragende Bürger entfremdeten sich – einige zeitweise, andere für immer - von Regierung, Staatsorganen und Volksparteien, denen sie nun Misstrauen und Abneigung entgegenbrachten. Auf der anderen Seite bewirkten die Geschehnisse, dass die Ablehnung der Atomkraft, die sich seit den 1970er Jahren vor allem in Deutschland in der Gesellschaft ausbreitete, Mitte der 1980er Jahre in der Mitt e der Gesellschaft ankam und letztendlich mehrheitsfähig wurde. Praktische Kultur war und ist so mehr als nur eine „Begleiterscheinung“ beim (hoffentlich erfolgreichen) endgültigen Atomausstieg. Sie begleitete und verstärkte von Anfang auch die Forderungen einer nach politischer Partizipation strebenden Bürgergesellschaft.